Frühlingserwachen

Ich renne weg. Ich erstarre. Ich bin Gletschereis, kalt und hart, unbeweglich. Ich bin kalte Gliedmaßen im Winter, wenn alle Wärme in die Körpermitte fließt, um uns am Leben zu erhalten. Ich bin der Moment, wo dein Herz kurz stoppt vor Angst. Ich bin Winterstarre. Ich bin gefrorenes Wasser. Ich bin kalte, stille Nacht. Nichts bewegt sich. Kein Geräusch. Ich bin Schnecke, eingerollt, versiegelt, versteckt in einer Nische. Mein Zustand ist fragil. Ich kann nur hoffen zu überleben. Ich kann mich nicht verändern und ich kann nichts daran verändern. Ich lebe trotz allem. Ich lebe und fühle. Ich schäme mich. Ich erstarre. Ich schäme mich. Ich überlebe. Ich falle in mich zusammen kalt und vertrocknet, Hülle meiner selbst. Aber ich lebe. Der Winter scheint ewig.

Nach dem Winter kommt der Frühling. Mein Herz schlägt einmal. Entgegen meiner sehnlichsten Träume hat mich niemand zertreten. Die Welt draußen verlangt Bewegung von mir. Ich weiß nicht mehr wie es geht. Aber mein kleiner Körper pocht. Die Sonne scheint durch meine dünne Schale. Ich beginne meine Arme wieder zu fühlen und erschrecke mich. Mein Herz bleibt Gletscher. Ich sehe wie ich leben will und erstarre erneut. Ich weiß nicht mehr wie es geht. Es wird alles anders und es wird weiter alles anders werden und ich weiß nicht wie es geht. Ich krieche fort von der Öffnung. Rolle in mich hinein und wärme mich dabei unabsichtlich. Ich blicke durch die dünnen Wände meiner selbst ins gleißende Frühlingslicht. Mein Herz schlägt noch einmal. Ich erschrecke mich. Mein Herz bleibt stehen. Ich lebe, schon wieder, trotz allem.

Die Welt verzaubert mich. Kahle Bäume grünen zaghaft. Ihre schwarzen, klaren Wintersilhouetten schimmern grün im Nebel. Zugvögel fliegen gen Wärme. Die Sonne wärmt mein Gesicht. Überwältigt will ich erstarren, sterben, überleben, aber der Welt scheint das Licht weiter aus dem Arsch. Für den Moment ergebe ich mich.

Ich liebe diese Welt trotz allem. Ich fürchte sie. Ich schäme mich vor ihr. Ich liebe sie. Sie ist wild und unergründlich und bezaubernd. Sie ist brutal und unmenschlich und formbar. Sie zerstört meine Seele und ist der Grund warum ich lebe. Ich wollte sie wäre anders, aber wäre sie anders wäre ich nicht wer ich bin. Ich wollte ich wäre anders, aber dann wäre die Welt nicht ganz so wie sie ist. Ich will sie zerstören, bevor sie mich zerstört. Ich will auf alles kotzen, aber dann sehe ich einen Falken in einem Baum, höre einen Buntspecht hämmern und sehe erste Kirschblüten. Ich kann nicht anders, ich lebe in dieser Welt. Wir gehören zueinander. Sie tut mir weh und ich liebe sie.

Ich will mit ihr sein. Ich erinnere mich daran wie. Vor Jahrtausenden, als die Gletscher das letzte Mal geschmolzen sind, hatte ich Willen. Ich hatte Willen und Glauben und Werte. Ich bin aufrecht gelaufen und ihnen gefolgt, bis ich nicht mehr konnte. Verloren habe ich überlebt, ohne sie. Die Erinnerung ist drückend, schmerzhaft. Gebrochenes Herz, Verlust. Ich bin Hülle meiner Selbst, ausgetrocknet und starr und kalt. Ich atme, ich bebe, ich lebe, ob ich will oder nicht. Ich erinnere mich.

Neugier – Der Falke, wie viel ich nicht über ihn weiß. Wie viel ich lernen und fühlen könnte. Wie viele Fragen könnten in mir leben, neue Fragen gebären, neue Fragen gebären? Wer könnte ich sein? Wieviel Welt könnte in mir Platz haben? Kann ich fließen und formen und formbar sein?

Demut – Welche Ehre in dieser Welt sein zu dürfen. Wie klein ich bin und die Welt groß. Ich bin beschenkt hier lernen zu dürfen. Ich bin gesegnet hier zu existieren, zu fühlen, zu leben. Gesegnet das Sonnenlicht auf meiner Stirn. Wie wenig ich doch weiß und wie wenig ich jemals wissen werde. Wie wenig ich tun kann in meinem einen kleinen Leben. Wie fehlerhaft wir alle sind und wie perfekt. Wie sehr wir scheitern werden, immer und immer wieder, unausweichlich. Schmerz der zum Leben dazugehört. Scheitern feiern und darin scheitern.

Gerechtigkeit – Loderndes Feuer, gleißendes Licht. Ich greife hinein und hole die Welt heraus, die wir alle verdienen. Die Welt, in die wir alle passen, mit euch gemeinsam. Wir bringen die Welt wieder ins Lot, wir richten die Verhältnisse, für uns, für uns alle. Brennendes Rot, loderndes Feuer, wir schauen hin in den Schmerz dieser Welt. Wir brennen alles nieder. Wir wollen die Waage im Lot, wir wollen Antworten, Verantwortung. Ich will Wiedergutmachung und Gerechtigkeit. Ich schreie und ich kämpfe. Wir werden nicht geduldig warten, bis wir sterben. Wir wollen aus dieser Welt noch lebend heraus.

Verantwortung – Freiheit. Alle Himmelsrichtungen stehen mir, uns offen. Welch erschreckende Freude. Die Werkzeuge in die Hand nehmen und schaffen in dieser Welt, über die ich so wenig weiß. Ich zimmere ihr etwas aus dem was ich habe und strecke es ihr entgegen. Aufrecht und roh und in Würde blicke ich der Welt ins Gesicht. Ich weiß wer ich bin und was ich will. Wir wissen wer wir sind und was wir wollen. Nimmt sie es, mache ich weiter. Nimmt sie es nicht, mache ich weiter, machen wir wieder und wieder etwas für sie aus dem was wir haben.

Mitgefühl – Die Welt hält mich jeden Tag. Sie ist da, ob ich will oder nicht. Wenn ich weg wäre, wäre sie noch immer, aber nicht die gleiche. Sie ist mit mir, wie kann ich da nicht mit ihr sein? Die Welt fühlen, lebendig und schmerzhaft, dem Tod ins Antlitz schauen und überleben. Die Welt gemeinsam erleben. In der Welt sein.

Solidarität – Wir gehören zusammen. Wir können nicht alleine gut leben. Was ich für andere tue, tue ich für mich. Was andere tun, tun sie für mich. Euer Schmerz ist meiner. Unser Schmerz ist eurer. Wir bejahen den unumgänglichen Umstand, dass wir verbunden sind miteinander. Wir bejahen und laben uns in unserer Abhängigkeit. Wir träumen füreinander, miteinander, wir lieben uns trotz allem. Wir kämpfen zusammen bis wir alle frei sind.