Cancel Culture, Cancel Culture, Cancel Culture!

Versuch eines Blogposts

Ich will das Wort hunderte Male schreiben, aussprechen, definieren, umschreiben, um mich zu vergewissern, dass Cancel Culture existiert. Dass ich mir das alles nicht einbilde.

Ich versuche mit meinen linken Freund_innen darüber zu reden und sie hören mir zu, aber viele haben Angst vor dem Wort. Ich weiß, dass Cancel Culture existiert, weil ich ihre irrationalen kultartigen Gesetze selbst studiert, geformt, ausgeführt und schließlich abbekommen habe. Ich weiß, dass Cancel Culture existiert, weil jedes Mal, wenn ich mich ihrer paradoxen nicht-Logik entziehe, 10 Tonnen von meinen Schultern fallen. Ich kann leichter atmen und denken und fühlen.

Ich weiß, dass Cancel Culture existiert, weil ich oft genug in Räumen gesessen habe, wo im vermeintlichen Bestreben politisch etwas zu verändern nur darüber geredet wird, was wir alles nicht tun können, warum wir einander nicht vertrauen können, warum die einfachsten Aktionen ganz kompliziert sein müssen, warum warum warum es keine Hoffnung und keine linke Gegenmacht gibt, sondern nur Herrschaft, Diskriminierung und Gewalt, die in jeder Ecke lauert.

Ich habe in diesen Räumen gesessen und genau dieses Misstrauen verbreitet. Ich habe Gerüchte und übertriebene Beschreibungen von nicht-Situationen in den Raum gesetzt oder weitergetratscht. Ich habe Ideen schlecht geredet und jedes kreative Potenzial, das in einer Gruppe steckte mit der Ferse kaputtgetreten, bis niemand sich mehr getraut hat, etwas vorzuschlagen außer mir und den zwei anderen Menschen, die wie ich so identitätspolitisch durchradikalisiert waren, dass sie auch überall Gefahr und Diskriminierung sahen.

Hilfe, ich bin in einem Kult ohne Anführer_innen und möchte raus. Ich möchte schon seit drei Jahren raus und ich dachte ich wäre raus, aber dann habe ich mein Leben auf ganz neue Arten gefickt. Der Kult ist viel breiter als ich das damals sehen konnte. Es gibt keinen Kompromiss mit der nicht-Logik des Kultes. Es gibt vielleicht eine schleichende Entradikalisierung, so viel schleichender als ich dachte. Ich möchte, dass dieser Alptraum meines Lebens, der langsam begann als ich mit 14 auf Tumblr zum ersten Mal andere queere Menschen fand, jetzt vorbei ist. Ich werde in ein paar Tagen 27 zum fick. Das sind 13 Jahre mal mehr mal weniger geprägt von identitätspolitischen Verblendungen – mein halbes Leben.

Ich möchte das keine andere queeren Jugendlichen, und überhaupt gar keine andere Person jemals wieder beigebracht bekommt, dass die Welt in Privilegierte und Diskriminierte geteilt werden sollte und dass die Diskriminierten das Sagen darüber haben sollten, was wir miteinander und der Welt machen. Was ist das für eine scheiß-vereinfachte Kindergartenlogik. Das bringt nicht Gerechtigkeit, sondern Diversity in Führungspositionen.

Cancel Culture legitimiert und begünstigt Gewalt. Cancel Culture ist gewaltvoll. Ich will es 100.000 Mal von den Dächern Berlins und Thessalonikis schreien. Wir müssen endlich aufhören, diese Scheiße zu machen und zu dulden. Das ist doch nicht normal! (Es ist in den linken Szenen, die ich kenne normal.) Es ist kein Wunder, dass ihr euch nicht vertraut, wenn ihr euch die ganze Zeit gegenseitig wegcancelt.

Ich möchte raus und weiß, dass es nicht jetzt sofort geht, sondern dass ich einen scheinbar unendlichen Weg voller winziger, schmerzhafter und befreiender Entscheidungen gehen muss, um irgendwo anzukommen, wo das für mich nicht mehr normal ist. Ich möchte mich selbstbewusst darüber aufregen können, ohne zu fürchten, dass ich die Hälfte der handvoll Menschen verliere, die nach den Schritten, die ich schon gegangen bin, noch in meinem Leben bin. Wir zählen aktuell großzügig gerechnet sieben Menschen, denen ich vertraue und mit denen ich verbindliche Beziehungen habe.

7!! Ich war jahrelang in einem queeren Jugendzentrum aktiv. Ich habe studiert. You would think I would have more friends? Nope, weil die meisten im Kult sind und ich mich aktiv gegen mehr Kontakt mit ihnen entscheide, oder weil sie denken, dass ich rassistisch bin, weil ich für mich eingestanden bin, als mein Exfreund mich als Stück Dreck beleidigt hat (gibt natürlich mehr Kontext, aber keinen, der das rechtfertigt). Unsere “gemeinsamen” Freunde sind in dem Moment verschwunden, wo ich gecheckt habe, dass mein Exfreund mithilfe von Identitätspolitik über mich und andere lügt und ich es nicht weiter mitgetragen habe. Ich weiß was die fucking Kosten sind. Und dann gibt es natürlich noch die friends, die ich verloren habe, weil ich mich scheiße zu ihnen verhalten habe. Und die ich nie gefunden habe, weil ich zu misstrauisch war als ich an den Kult geglaubt habe. Die Schlange beißt sich in den Schwanz und verschlingt sich selbst.

Ich würde mich gerne brandmarken, damit das ein für alle Mal gegessen ist, aber leider bzw. zum Glück bin ich nur irgendein Lulatsch-Sozialarbeiter, der es hasst auf Sozialen Medien zu posten und den kaum noch irgendwer kennt. Ich will nicht das sich das alles Mal um Mal in meinem Leben wiederholt. Kann mir jemand sagen, was zum fick ich Leuten sagen soll, die ich seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hab und die ich auf irgendwelchen “““Community“““ Events sehe?

Hey, ich versuche aus Cancel Culture auszusteigen, machst du mit? Und dann sind die so, ja voll, also dass wir vor paar Jahren gefordert haben, jemand soll sein Tattoo Studio schließen und die Person aus allen möglichen Räumen vertrieben haben, weil eine Person auf sozialen Medien gesagt hat, dass alle weißen Menschen, die das nicht tun, White Supremacists sind, war schon ein bisschen too much, aber naja heute sind wir ja nicht mehr so. Aber eine weiße Person mit Dreads, sollte schon nicht Awareness machen hier.

Und ich … dieses stille Tolerieren von jenseitigen Takes hat mir echt nicht viel gebracht in der Vergangenheit. Aber will auch nicht meine verbliebenen linken Friends anpampen und verlieren. Ich bin erschöpft und müde und fühle mich einsam. Ich denke die ganze Zeit ich drifte ins andere Extrem, aber weiß, dass ich mir literally gerade so erlaube mit gesundem Menschenverstand zu denken und ich hinter meinen Meinungen stehe.

Die sind aus allem was ich bisher erlebt habe gewachsen, und was ich erlebt habe ist wirklich passiert und es hat nur wenige Menschen interessiert, dass die Grundlage auf der ich all die Scheiße erlebt habe Cancel Culture war. Ich habe keine Räume in denen ich darüber reden kann, ohne Sorge haben zu müssen, das mir unterstellt wird, dass ich lüge, dass mir nicht geglaubt wird, dass mir die gleichen Vorwürfe und Unterstellungen gemacht werden, die mir meine zwei Exbeziehungen gemacht haben (ja ich hab in Teilen fragwürdigen Geschmack). Ich bin erschöpft, so erschöpft. Ich weiß nicht wo meine Integrität ist, ich bin bitter und misstrauisch und zynisch und wütend und hoffnungslos.

An meine friends, ich schätze euch, ich weiß, dass ihr euch meine Geschichten angehört habt und dass ihr da wart, als es mir wirklich sehr schlecht ging und mir viel gegeben habt, ohne etwas zurück zu erwarten. Ich bin sauer und ich musste etwas schreiben, um an meinem inneren Zensor vorbeizukommen. Ich stehe zu der Kritik, die ich habe, auch wenn ich sie sicher konstruktiver und präziser hätte formulieren können.

An die die das lesen, wenn ihr im deutschsprachigen Raum lebt und mit mir über den Ausstieg aus Cancel Culture reden wollt, schreibt mir an erotische-ambivalenz@riseup.net. Ich bin nicht immer so schlecht gelaunt, im Großen und Ganzen ein liebevoller, empathischer, neugieriger Mensch und bemühe mich eigentlich hoffnungsvoller zu schreiben als das da oben.

Frühlingserwachen

Ich renne weg. Ich erstarre. Ich bin Gletschereis, kalt und hart, unbeweglich. Ich bin kalte Gliedmaßen im Winter, wenn alle Wärme in die Körpermitte fließt, um uns am Leben zu erhalten. Ich bin der Moment, wo dein Herz kurz stoppt vor Angst. Ich bin Winterstarre. Ich bin gefrorenes Wasser. Ich bin kalte, stille Nacht. Nichts bewegt sich. Kein Geräusch. Ich bin Schnecke, eingerollt, versiegelt, versteckt in einer Nische. Mein Zustand ist fragil. Ich kann nur hoffen zu überleben. Ich kann mich nicht verändern und ich kann nichts daran verändern. Ich lebe trotz allem. Ich lebe und fühle. Ich schäme mich. Ich erstarre. Ich schäme mich. Ich überlebe. Ich falle in mich zusammen kalt und vertrocknet, Hülle meiner selbst. Aber ich lebe. Der Winter scheint ewig.

Nach dem Winter kommt der Frühling. Mein Herz schlägt einmal. Entgegen meiner sehnlichsten Träume hat mich niemand zertreten. Die Welt draußen verlangt Bewegung von mir. Ich weiß nicht mehr wie es geht. Aber mein kleiner Körper pocht. Die Sonne scheint durch meine dünne Schale. Ich beginne meine Arme wieder zu fühlen und erschrecke mich. Mein Herz bleibt Gletscher. Ich sehe wie ich leben will und erstarre erneut. Ich weiß nicht mehr wie es geht. Es wird alles anders und es wird weiter alles anders werden und ich weiß nicht wie es geht. Ich krieche fort von der Öffnung. Rolle in mich hinein und wärme mich dabei unabsichtlich. Ich blicke durch die dünnen Wände meiner selbst ins gleißende Frühlingslicht. Mein Herz schlägt noch einmal. Ich erschrecke mich. Mein Herz bleibt stehen. Ich lebe, schon wieder, trotz allem.

Die Welt verzaubert mich. Kahle Bäume grünen zaghaft. Ihre schwarzen, klaren Wintersilhouetten schimmern grün im Nebel. Zugvögel fliegen gen Wärme. Die Sonne wärmt mein Gesicht. Überwältigt will ich erstarren, sterben, überleben, aber der Welt scheint das Licht weiter aus dem Arsch. Für den Moment ergebe ich mich.

Ich liebe diese Welt trotz allem. Ich fürchte sie. Ich schäme mich vor ihr. Ich liebe sie. Sie ist wild und unergründlich und bezaubernd. Sie ist brutal und unmenschlich und formbar. Sie zerstört meine Seele und ist der Grund warum ich lebe. Ich wollte sie wäre anders, aber wäre sie anders wäre ich nicht wer ich bin. Ich wollte ich wäre anders, aber dann wäre die Welt nicht ganz so wie sie ist. Ich will sie zerstören, bevor sie mich zerstört. Ich will auf alles kotzen, aber dann sehe ich einen Falken in einem Baum, höre einen Buntspecht hämmern und sehe erste Kirschblüten. Ich kann nicht anders, ich lebe in dieser Welt. Wir gehören zueinander. Sie tut mir weh und ich liebe sie.

Ich will mit ihr sein. Ich erinnere mich daran wie. Vor Jahrtausenden, als die Gletscher das letzte Mal geschmolzen sind, hatte ich Willen. Ich hatte Willen und Glauben und Werte. Ich bin aufrecht gelaufen und ihnen gefolgt, bis ich nicht mehr konnte. Verloren habe ich überlebt, ohne sie. Die Erinnerung ist drückend, schmerzhaft. Gebrochenes Herz, Verlust. Ich bin Hülle meiner Selbst, ausgetrocknet und starr und kalt. Ich atme, ich bebe, ich lebe, ob ich will oder nicht. Ich erinnere mich.

Neugier – Der Falke, wie viel ich nicht über ihn weiß. Wie viel ich lernen und fühlen könnte. Wie viele Fragen könnten in mir leben, neue Fragen gebären, neue Fragen gebären? Wer könnte ich sein? Wieviel Welt könnte in mir Platz haben? Kann ich fließen und formen und formbar sein?

Demut – Welche Ehre in dieser Welt sein zu dürfen. Wie klein ich bin und die Welt groß. Ich bin beschenkt hier lernen zu dürfen. Ich bin gesegnet hier zu existieren, zu fühlen, zu leben. Gesegnet das Sonnenlicht auf meiner Stirn. Wie wenig ich doch weiß und wie wenig ich jemals wissen werde. Wie wenig ich tun kann in meinem einen kleinen Leben. Wie fehlerhaft wir alle sind und wie perfekt. Wie sehr wir scheitern werden, immer und immer wieder, unausweichlich. Schmerz der zum Leben dazugehört. Scheitern feiern und darin scheitern.

Gerechtigkeit – Loderndes Feuer, gleißendes Licht. Ich greife hinein und hole die Welt heraus, die wir alle verdienen. Die Welt, in die wir alle passen, mit euch gemeinsam. Wir bringen die Welt wieder ins Lot, wir richten die Verhältnisse, für uns, für uns alle. Brennendes Rot, loderndes Feuer, wir schauen hin in den Schmerz dieser Welt. Wir brennen alles nieder. Wir wollen die Waage im Lot, wir wollen Antworten, Verantwortung. Ich will Wiedergutmachung und Gerechtigkeit. Ich schreie und ich kämpfe. Wir werden nicht geduldig warten, bis wir sterben. Wir wollen aus dieser Welt noch lebend heraus.

Verantwortung – Freiheit. Alle Himmelsrichtungen stehen mir, uns offen. Welch erschreckende Freude. Die Werkzeuge in die Hand nehmen und schaffen in dieser Welt, über die ich so wenig weiß. Ich zimmere ihr etwas aus dem was ich habe und strecke es ihr entgegen. Aufrecht und roh und in Würde blicke ich der Welt ins Gesicht. Ich weiß wer ich bin und was ich will. Wir wissen wer wir sind und was wir wollen. Nimmt sie es, mache ich weiter. Nimmt sie es nicht, mache ich weiter, machen wir wieder und wieder etwas für sie aus dem was wir haben.

Mitgefühl – Die Welt hält mich jeden Tag. Sie ist da, ob ich will oder nicht. Wenn ich weg wäre, wäre sie noch immer, aber nicht die gleiche. Sie ist mit mir, wie kann ich da nicht mit ihr sein? Die Welt fühlen, lebendig und schmerzhaft, dem Tod ins Antlitz schauen und überleben. Die Welt gemeinsam erleben. In der Welt sein.

Solidarität – Wir gehören zusammen. Wir können nicht alleine gut leben. Was ich für andere tue, tue ich für mich. Was andere tun, tun sie für mich. Euer Schmerz ist meiner. Unser Schmerz ist eurer. Wir bejahen den unumgänglichen Umstand, dass wir verbunden sind miteinander. Wir bejahen und laben uns in unserer Abhängigkeit. Wir träumen füreinander, miteinander, wir lieben uns trotz allem. Wir kämpfen zusammen bis wir alle frei sind.